Cover
Titel
Victory Banner Over the Reichstag. The Film, Document and Ritual in Russia's Contested Memory of World War II


Autor(en)
Hicks, Jeremy
Reihe
Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nina Frieß, Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS), Berlin

Nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs auf die gesamte Ukraine ein Ende 2020 veröffentlichtes Buch über den Zweiten Weltkrieg in der russischen Erinnerungskultur zu rezensieren, mag auf den ersten Blick merkwürdig erscheinen. Zu groß erscheint der Missbrauch, dem die historischen Narrative rund um den Zweiten Weltkrieg durch den russischen Präsidenten und seine Anhänger seitdem ausgesetzt waren und sind. Insbesondere die dreiste Lüge, die Ukraine werde von „Nazis“ regiert und müsse deshalb „denazifiziert“ werden, suggeriert eine Fortsetzung des Kampfes gegen den Nationalsozialismus, der 1941 mit dem Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion seinen Anfang nahm. Natürlich hat auch Jeremy Hicks, Autor von The Victory Banner over the Reichstag. Film, Document, and Ritual in Russia’s Contested Memory of World War II, den russischen Angriff auf die Ukraine nicht vorhergesehen. Aber ihm war beim Schreiben seiner Monografie bewusst, dass sich historische Narrative permanent wandeln, manchmal innerhalb kürzester Zeit. Das merkt man seinem Buch an und das macht seine Geschichte über das sowjetische Siegesbanner auch nach dem 24. Februar 2022 zu einem lesenswerten Buch.

Der Kultur- und Filmwissenschaftler Hicks hat für seine Analyse des Zweiten Weltkriegs in der sowjetischen und nach 1991 russischen Erinnerungskultur ein kulturelles Artefakt gewählt, das zumindest in Russland wie wohl kein zweites mit dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“1 in Verbindung gebracht wird: das in der Nacht vom 30. April 1945 über dem Berliner Reichstag gehisste Siegesbanner. Der Autor rekonstruiert zum einen, wie das Banner auf dem Reichstagsgebäude gehisst wurde (Kapitel 1). Angesichts der umstrittenen Geschichte rund um diesen symbolisch aufgeladenen Akt ist eine solche Rekapitulation keineswegs trivial, denn über Jahrzehnte stritten sowjetische Historiker (meist hinter verschlossenen Türen) darüber, wann wer welches Banner wo auf dem Reichstag gehisst habe. So zeigt Evgenij Chaldejs berühmtes Foto der beiden Rotarmisten, die eine Flagge auf dem Reichstag hissen, weder den historischen Moment, in dem das Siegesbanner gehisst wurde, noch das historische Artefakt. Vielmehr ist diese ikonische Fotografie, die auch auf dem Buchcover zu sehen ist, eine sorgfältige Inszenierung, die erst am 2. Mai 1945 entstand. Zum anderen – und das macht den Großteil seiner Studie aus – zeigt Hicks, welche Rolle dem Artefakt in der russischen Erinnerungskultur vom Kriegsende 1945 über die unmittelbare Nachkriegszeit noch unter der Herrschaft Stalins (Kapitel 2), in der Tauwetterperiode, der Ära Brežnev (Kapitel 3 und 4), während Glasnost, in den post-sowjetischen 1990ern und schließlich im Russland unter Putin zuteilwurde (Kapitel 5). Dafür betrachtet er die Darstellung des Siegesbanners insbesondere im bewegten Bild, im Spiel- und Dokumentarfilm, aber auch im Computerspiel.

Schon bei der Rekonstruktion des historischen Akts macht Hicks deutlich, dass es sich bei diesem keineswegs um eine spontane Aktion gehandelt habe, sondern dass er von der sowjetischen Führung mit dem Ziel, symbolisch aufgeladene Bilder vom sowjetischen Sieg über Nazi-Deutschland zu schaffen, sorgfältig geplant wurde. Zwar gehört die Konstruiertheit von Erinnerungen zu den inzwischen unumstrittenen Grundannahmen der Memory Studies. Dennoch scheint mir, dass wir uns noch zu selten Gedanken darüber machen, dass bereits der Ausgangsmoment einer späteren Erinnerung konstruiert sein könnte. Wie erfolgreich das gewählte Bild – das sowjetische Banner über dem Berliner Reichstag – als Symbolbild für den Sieg der Sowjetunion werden sollte, zeigt Hicks, wenn er in vier Kapiteln nachzeichnet, dass die Symbolkraft des Banners in 75 Jahren wechselvoller sowjetischer, nach 1991 russischer Geschichte zwar immer wieder mit neuer Bedeutung versehen, nie aber in Frage gestellt wurde. Während es in der späten Stalinzeit eine deutliche „stalinistische Imprimatur“ (Stalinist imprimatur) (S. 88) aufwies, welche die Rolle Stalins für den Sieg hervorhob und die nie gänzlich verloren ging, wurde unter Chruščev doch zumindest versucht, das Hissen des Banners zu einem Akt des kollektiven Massenheroismus umzudeuten. Was sich bis in die Gegenwart nicht geändert hat – und das macht der Autor immer wieder deutlich – ist, dass der Kreml mit seinen wechselnden Herrschern stets darauf bedacht war, die Deutungshoheit über das Siegesbanner und damit die Erinnerungskultur nicht aus der Hand zu geben.

Ein besonderes Verdienst von Hicks Studie ist, dass sie eine Menge heute zum Teil in Vergessenheit geratener, einst aber populärer Filme und TV-Serien kritisch analysiert und dabei auch ihre Entstehungsgeschichte berücksichtigt (unter anderem Padenie Berlina [Der Fall von Berlin], 1950; Ozvoboždenie [Die Befreiung], 1970–72; The Unknown War2, 1978). Besonders aufschlussreich und von akkurater Arbeit mit Archivmaterial zeugend ist dabei, dass der Autor vielfach Einsicht in frühere Drehbuchversionen und Korrespondenzen der Filmschaffenden nehmen konnte und dadurch aufzeigen kann, wie sich die Filme bis zu ihrer Veröffentlichung etwa durch politische Einflussnahme veränderten. Hicks legt bei der Filmanalyse einen Schwerpunkt auf den Dokumentarfilm und das Doku-Drama; als Literaturwissenschaftlerin hätte mich interessiert, inwiefern die zahlreichen Texte der sogenannten Leutnantsprosa, die nach der Veröffentlichung von Viktor Nekrasovs In den Schützengräben von Stalingrad (1946) entstanden, ihren Niederschlag auch in der sowjetischen Filmlandschaft gefunden haben. Hicks erwähnt von Veteranen verfasste Memoiren (S. 100), denen er aber keine besondere Bedeutung beimisst. Dass die meist ebenfalls von Veteranen verfassten literarischen Texte anderer Genres, die weit größere Verbreitung als reine Memoiren fanden, nahezu unberücksichtigt bleiben, ist bei allem Verständnis für die Notwendigkeit zur Materialbeschränkung dennoch bedauerlich.

Jeremy Hicks hat mit The Victory Banner over the Reichstag eine detaillierte und aufschlussreiche Studie über das Siegesbanner und seine Bedeutung in der sowjetischen bzw. russischen Erinnerungskultur vorgelegt. Der Ausblick am Schluss zeigt, dass die Geschichte dieser als quasi heilig verehrten Reliquie nicht mit dem Jahr 2020 endet. Das Jahr 2022 hat ein besonders trauriges, tragisches und noch nicht beendetes Kapitel in die an Missbrauch nicht arme Erzählung über das Siegesbanner eingefügt. Der Autor schließt am Ende seines Buchs nicht aus, dass der Kult um den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg irgendwann ein Ende finden wird, auch wenn er momentan „ewig“ (S. 221) erscheine. Im April 2023, über ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die gesamte Ukraine, kann man nur darauf hoffen, dass Hicks mit dieser Einschätzung eher früher als später recht behalten wird.

Anmerkungen:
1 Als „Großer Vaterländischer Krieg“ wird in Russland der Krieg der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland bezeichnet, der mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann und mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. (nach Moskauer Zeit 9.) Mai 1945 endete.
2 Bei The Unknown War handelt es sich um eine 20-teilige US-amerikanische TV-Serie, die aber in der Sowjetunion unter maßgeblicher Beteiligung sowjetischer Filmschaffender gedreht wurde. Sie lief – in zensierter Form – auch im sowjetischen Fernsehen.

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